Wem gehört die Geschichte?

Wem gehört die Geschichte?

Zwei Autoren, eine Ehe, eine Trennung – und zwei Bücher über dieselbe Geschichte. Der Fall der Romanautorin Hannah Pittard wirft eine zeitlose Frage auf, die in der digitalen Kreativwirtschaft drängender ist denn je: Wer hat das Recht, eine geteilte Erfahrung zu erzählen? Ein neues Modell für das Urheberrecht will die Spielregeln radikal vereinfachen und setzt auf Kooperation statt Konfrontation.

Die New York Times berichtete kürzlich über einen faszinierenden Fall von narrativem Eigentum, der eine lebhafte Diskussion auf Instagram auslöste:

New York Times Logo
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Portrait von Hannah Pittard, Foto von @stacykranitz

nytimes Die Romanautorin Hannah Pittard schrieb eine Autobiografie über ihre Ehe und Scheidung. Als sie erfuhr, dass ihr Ex-Mann einen Roman geschrieben hatte, dessen Handlung ihre Trennungsgeschichte genau widerspiegelte, griff sie das Thema erneut auf, diesmal als Fiktion (sozusagen). [...] Die Frage, wer eine Geschichte erzählen darf und wie, kann kompliziert werden, wenn ehemals verheiratete Schriftsteller auf dasselbe Material zurückgreifen.

Ausgewählter Kommentar

philipp_arthur_berlin Dies stellt eine faszinierende moderne Fallstudie zum Eigentum an Erzählungen dar und spiegelt langjährige philosophische Debatten über die Natur des Originals im Vergleich zur Kopie wider. [...] Jede „Kopie“ oder Nacherzählung ist an sich eine Transformation, die in einem anderen Kontext ein neues, fließendes Original schafft.

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Der Fall ist ein Paradebeispiel für eine Grauzone, in der sich Kreative ständig bewegen. Wem gehört eine Erinnerung? Wer darf aus einem gemeinsamen Leben Kapital schlagen? Und was passiert, wenn Kunst und Leben untrennbar miteinander verwoben sind? Wir haben mit dem Künstler und Strategen Philipp Stelzner gesprochen, der aus dieser Problematik ein provokantes, aber bestechend einfaches Modell für ein neues Urheberrecht entwickelt hat.

Abstrakte Darstellung von narrativen Fäden

Philipp Stelzner im Gespräch

Redaktion: Herr Stelzner, der Fall der schreibenden Ex-Eheleute wirft eine grundlegende Frage auf: Wem gehört eine geteilte Erfahrung?

Philipp Stelzner: Genau das ist der Kern. Aus philosophischer Sicht könnte man mit Walter Benjamin fragen, ob die „Aura“ der gelebten Erfahrung bei ihrer literarischen Reproduktion verloren geht. Ich glaube aber, der dekonstruktivistische Ansatz von Derrida passt hier besser: Es gibt keine einzelne, „originale“ Geschichte der Ehe. Sowohl die Memoiren als auch der Roman sind eigenständige Schöpfungen, neue Texte, die erst in Beziehung zueinander ihre volle Bedeutung entfalten. Jede Nacherzählung ist eine Transformation, die ein neues, fließendes Original schafft. Es gibt keine endgültige Quelle, nur eine Kette von Interpretationen.

Redaktion: Aus dieser Beobachtung haben Sie ein radikal einfaches Modell für ein neues Urheberrecht entwickelt. Wie funktioniert es?

Philipp Stelzner: Der Grundsatz ist simpel: Jeder darf alles erschaffen und alles Vorhandene nutzen. Wenn der ursprüngliche Urheber entdeckt, dass sein Werk von jemand anderem genutzt wird, kann er einschreiten. Ab diesem Moment – und nur für die Zukunft, nicht rückwirkend – muss der Nutzer eine Vereinbarung mit dem Urheber treffen oder die Nutzung einstellen. Es gibt keinen Regressanspruch für die Vergangenheit. Die Mechanik ist darauf ausgelegt, frühzeitige Kooperation zu belohnen.

Redaktion: Das klingt wie ein ständiges Damoklesschwert für den Nutzer.

Philipp Stelzner: Genau das ist der Anreiz. Stellen Sie sich vor, Sie nehmen ein Logo, das Sie irgendwo gefunden haben, und bauen Ihre gesamte Marke darauf auf. Sie besticken Uniformen, lackieren Maschinen. Dann kommt der Urheber und sagt: „Nein, das dürfen Sie nicht weiterverwenden.“ Und er ist nicht verhandlungsbereit. Sie müssen dann nicht für die Vergangenheit zahlen, aber Sie müssen Ihre gesamte Marke für die Zukunft neu aufbauen. Der wirtschaftliche Schaden ist immens. Deshalb macht es Sinn, früh zu kooperieren und zu fragen. Je früher man fragt, desto geringer ist der Wert und desto wahrscheinlicher ist eine gütliche Einigung, oft sogar ohne Kosten.

Redaktion: Kritiker würden einwenden, dass ein solches System ohne Exklusivrechte zu einer Verwässerung des Einkommens pro Werk führen könnte. Wie begegnen Sie dem?

Philipp Stelzner: Dieses Argument ist eine pauschale Behauptung, die die Systemdynamik ignoriert. Wenn jemand mein Kunstwerk für mehr Geld verkauft, als ich selbst dafür verlange, ist das für mich positiv. Ich kann meinen eigenen Preis anheben oder dem Verkäufer ein attraktives Lizenzmodell anbieten. Wenn er es für weniger verkauft, kann ich die weitere Nutzung untersagen, um meinen eigenen Markt nicht zu entwerten. Das System ist selbstregulierend. Man kann es sich wie ein physikalisches Drei-Körper-Problem vorstellen: Der Urheber, der Nutzer und das Publikum stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Ihre Interaktion wird durch Faktoren wie Macht, Einfluss und Sympathie bestimmt – nicht durch starre Regeln. Das System gleicht sich immer aus.

Dynamische Balance dreier Körper

Redaktion: Was ist mit Persönlichkeitsrechten? Werden die hier nicht ausgehebelt?

Philipp Stelzner: Nein, Persönlichkeitsrechte sind Schutzrechte und bleiben davon unberührt. Wenn jemand durch die Nutzung eines Werkes in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt wird, kann er das genauso zur Anzeige bringen wie heute. Mein Modell bezieht sich primär auf die Monetarisierung und Nutzung, nicht auf den Missbrauch. Der entscheidende Punkt ist die Zugänglichkeit. Sie schafft eine Tausch- und Nutzekonomie, die auf Freiwilligkeit und fairen Anreizen basiert, anstatt auf Verboten und Klagen.

Fazit: Mut zur Lücke

Stelzners Modell ist mehr als nur eine Reform des Urheberrechts; es ist ein Plädoyer für eine neue Kultur der Kreativität. Es verlagert die Verantwortung vom Gesetzgeber zurück zum Individuum und seiner eigenen Ethik. Anstatt auf präventive Verbote zu setzen, schafft es Anreize für Kommunikation und faire Teilhabe. In einer Welt, in der Remix, Sampling und KI-gestützte Kreation zur Norm werden, könnte ein solch fluides System nicht nur gerechter, sondern auch weitaus effizienter sein als die starren Korsetts des 20. Jahrhunderts. Es ist ein System, das auf Vertrauen basiert – und darauf, dass gute Ideen am besten gedeihen, wenn sie frei fließen können.