Wie lebt und arbeitet jemand, der sich konsequent weigert, auf eine Rolle, eine Funktion oder einen Lebensentwurf festgelegt zu werden? Philipp Stelzner arbeitet als Regisseur, KI-Entwickler, Berater, Unternehmer und Vater. In diesem Interview spricht er über die produktive Kraft der Wandelbarkeit, die Bedeutung von Resonanz in Kunst und Gesellschaft sowie die Idee, mit der BHC.Foundation Räume für Vielfalt und Kooperation zu schaffen. Das Gespräch lädt dazu ein, gängige Vorstellungen von Authentizität, Zugehörigkeit und künstlerischem Wirken neu zu befragen.
Redaktion: Herr Stelzner, Ihre Biografie irritiert viele: Sie wechseln Felder, Rollen, Projekte, und es fällt schwer, Sie auf eine Identität festzulegen. Ist diese Wandelbarkeit für Sie ein Schutz – oder wird sie in der Gesellschaft eher als Bedrohung empfunden?
Philipp Stelzner: Beides. Wandelbarkeit widerspricht dem Bedürfnis nach Sicherheit, an das viele gewöhnt sind. Ich erlebe oft, dass meine Offenheit, verschiedene Rollen zu übernehmen, Verunsicherung und manchmal sogar Misstrauen auslöst. Aber genau darin liegt mein Antrieb: Wandel ermöglicht es mir, unterschiedliche Perspektiven zu integrieren und Neues entstehen zu lassen – in der Kunst, in Projekten, im Umgang mit anderen. Wer Wandel als Bedrohung erlebt, hat meist Angst, dass die eigenen Routinen infrage gestellt werden. Für mich ist Wandel keine Schwäche, sondern Voraussetzung für Entwicklung.
Redaktion: Sie haben einmal gesagt, dass Ihr Werk nicht autobiografisch, sondern Spiegel sei. Können Sie erklären, wie Sie mit Kritik umgehen, die Sie persönlich meint – obwohl Sie in der Kunst eigentlich gesellschaftliche Routinen abbilden wollen?
Philipp Stelzner: Das ist eine der größten Herausforderungen. Ich sehe meine Kunst als Einladung, sich selbst zu befragen, nicht als Statement über mich als Person. Wenn ich mit einer KI-Performance provoziere oder in einer Kampagne Irritation erzeuge, will ich Muster sichtbar machen – etwa, wie Gruppen auf Unsicherheit reagieren oder wie Identität verwaltet wird. Kritik, die mich als Person adressiert, zeigt oft, dass das Werk seinen Zweck erfüllt: Es bringt Routinen und Projektionen ans Licht. Es geht um gesellschaftliche Prozesse, nicht um meine Biografie. Das zu vermitteln, ist nicht immer leicht, weil viele sich von Kunst persönliche Bekenntnisse oder Positionierungen erwarten.
Redaktion: Sie werden als jemand erlebt, der oft zwischen allen Stühlen sitzt. Gibt es Momente, in denen diese Position zu echter Isolation führt? Was tun Sie, wenn Resonanz ausbleibt?
Philipp Stelzner: Resonanz ist für mich kein Applaus, sondern das Gefühl, dass eine Frage oder eine Irritation aufgegriffen wird. Es gibt Zeiten, in denen ich mich allein fühle – nicht, weil ich Anerkennung brauche, sondern weil das Angebot zur Auseinandersetzung abgewiesen wird. Das kann passieren, wenn gesellschaftlich wenig Bereitschaft für Ambiguität besteht, wie in Momenten gesellschaftlicher Polarisierung oder Unsicherheit. Dann ist es umso wichtiger, Räume zu schaffen, in denen nicht Konformität zählt, sondern das gemeinsame Aushalten von Unterschiedlichkeit und Unfertigkeit. Die Isolation ist dann kein persönliches Defizit, sondern ein Symptom für die Enge gesellschaftlicher Räume.
Redaktion: Wie reagieren Sie darauf, dass manche Sie als strategisch, vielleicht sogar als manipulierend empfinden – gerade weil Sie Muster in Gruppen schnell erkennen und kommunizieren?
Philipp Stelzner: Das ist ein häufiger Vorwurf, der mehr über das Klima in einer Gruppe aussagt als über mich. Wer Muster sichtbar macht, gilt schnell als jemand, der andere lenken will. Tatsächlich interessiert mich weniger die Kontrolle als die Möglichkeit, blinde Flecken aufzuzeigen – sei es in einem Vorstand, in einer künstlerischen Jury oder in sozialen Projekten. Das erzeugt Unruhe, weil es etablierten Routinen widerspricht. Ich will, dass Gruppen handlungsfähiger werden, indem sie ihre eigenen Mechanismen erkennen. Diese Fähigkeit ist gesellschaftlich relevant – auch wenn sie manchmal unbequem ist.
Redaktion: Sie sprechen von der BHC.Foundation als Ort, an dem Differenz nicht nur toleriert, sondern aktiv genutzt wird. Wie sieht das praktisch aus?
Philipp Stelzner: Wir bauen mit der BHC.Foundation Formate, in denen Unterschiedlichkeit Ausgangspunkt für Kooperation ist – zum Beispiel in interdisziplinären Projekten, in Bildungsworkshops oder in digitalen Netzwerken. Ein konkretes Beispiel: In einem Kunstprojekt haben wir Menschen mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen und beruflichen Hintergründen zusammengebracht, um eine kollektive KI-Performance zu entwickeln. Jede*r brachte eine eigene Perspektive und eigene Unsicherheiten ein. Aus dieser Vielstimmigkeit ist nicht nur ein Kunstwerk, sondern ein temporärer Möglichkeitsraum entstanden, der weiterwirkt – auch in der Reflexion der Teilnehmenden über ihre eigenen Routinen. Genau das wollen wir: Räume schaffen, in denen das Andere als Ressource erfahrbar wird.
Praxisbeispiel: ClarifyAI & Intuitive Leadership
Unter dem Dach von ClarifyAI.Agency entsteht das Programm Intuitive Leadership. Es ist ein Ansatz, der datengestützte Analyse mit menschlicher Intuition verbindet, um Führungskräften zu helfen, komplexe Entscheidungen zu treffen. Anstatt sich nur auf Metriken zu verlassen, lernen die Teilnehmenden, schwer fassbare Signale in Teams und Märkten zu erkennen und für strategische Vorteile zu nutzen.
Redaktion: Kunst steht derzeit unter dem Vorwurf, beliebig zu sein, gerade durch KI und Mainstreamästhetik. Wie schaffen Sie es, dass Ihre künstlerischen Arbeiten und Konzepte mehr sind als Stil oder Statement?
Philipp Stelzner: Für mich beginnt Kunst dort, wo sie sich einer klaren Lesart entzieht. In meiner Arbeit mit generativer KI, etwa bei audiovisuellen Medien oder interaktiven Installationen, interessiert mich weniger das technische Neue als der Moment der Verunsicherung – also, wie ein Publikum darauf reagiert, wenn sich das Erwartbare nicht mehr einstellt. Die größte Gefahr sehe ich darin, dass Kunst als Produktivitätsbeweis missverstanden wird: Noch ein Werk, noch ein Inhalt. Ich will, dass ein Werk Unsicherheiten stiftet, Fragen aufwirft und ein Stück gesellschaftliche Selbstbefragung auslöst. Dabei geht es nicht um das Eigene, sondern um das Gemeinsame – und um die Erlaubnis, in Projekten und Diskursen „daneben“ liegen zu dürfen.
Redaktion: In einer Gesellschaft, die auf Effizienz, Vergleichbarkeit und dauerhafte Erreichbarkeit setzt, klingt Ihr Plädoyer für offene Räume fast utopisch. Glauben Sie, dass das umsetzbar ist?
Philipp Stelzner: Es gibt keine Alternative. Effizienz ist ein Mittel, kein Wert. Gesellschaften, die nur auf Effizienz setzen, verlieren an Innovationsfähigkeit und Gerechtigkeit. Freiräume entstehen nicht zufällig, sie müssen verteidigt werden – auch gegen Widerstände. Das gelingt, wenn Menschen erleben, dass Unterschiedlichkeit produktiv sein kann und dass niemand am Rand stehen bleibt, weil sie oder er nicht ins Raster passt. Das ist Arbeit, die nie zu Ende ist, aber gerade darin liegt für mich Sinn.
Redaktion: Zum Schluss: Was wünschen Sie sich, wenn Menschen Ihre Arbeit, Ihr Denken oder Ihre Projekte wahrnehmen?
Philipp Stelzner: Ich wünsche mir, dass Menschen darin keine Einladung zur Abgrenzung, sondern zur Teilnahme sehen. Dass sie spüren, dass es nicht um das Heraustreten aus der Gemeinschaft, sondern um das Mitgestalten von neuen Formen von Gemeinschaft geht. Und dass Resonanz auch da wertvoll ist, wo sie nicht eindeutig, nicht planbar, vielleicht sogar störend wirkt. Dann entsteht wirklich Neues.
Fazit
Wandelbarkeit ist kein Selbstzweck und kein Privileg für wenige, sondern ein notwendiges Korrektiv für Gesellschaften, die nicht stillstehen dürfen. Kunst, Beratung und Unternehmertum sind für ihn Versuchsfelder, in denen das Unfertige, das Andere und das Störende zum Ausgangspunkt neuer Verbindungen werden.
Die BHC.Foundation macht vor, wie Kooperation, Vielfalt und Ambiguität zur produktiven Ressource werden können.
Die gesellschaftliche Aufgabe: Nicht, Effizienz zu maximieren, sondern Resonanzräume zu schaffen – damit niemand vergessen wird, und damit das Gemeinsame wächst, ohne das Eigene zu verlieren.